Der Siebzigjährige, der über unsere Gartenmauer sprang | GourmetGuerilla.de

Der Siebzigjährige, der über unsere Gartenmauer sprang und ganz und gar nicht verschwand.

„MMMUUUAARRRRGGZZZZUNNNNNNNZZIIIIIIIII!!!“ Nur dumpf dringt das Geräusch zur mir durch. Boah, was ist das denn. Unwillig stopfe ich die Bettdecke fester um meinen Kopf. Es ist irgendetwas nach 22:30 Uhr, ich liege am Ende eines langen Tages in meinem Bett und bin gerade dabei einzuschlafen. Und ich bin so überhaupt nicht gewillt, mich aus diesem wirklich nuckeligen Halbschlaf reißen zu …„OOOHHHCCCCHHHHHHUUUUUAAAHHHIIIIIII!!!“

ECHT JETZT?! Ich rupfte die Bettdecke weg und lausche erbost. Sind das etwa wieder diese Studenten von oben? Mit denen und ihren mitten in der Nacht umkippenden Möbeln hatte ich ja schon häufiger viel Spaß. Aber eigentlich ist es dafür noch zu früh. Die Studis kommen meistens erst um Halbzwei so richtig auf Touren. „ÖÖÖÖÖZZZZZZUUUUUAAHHHH!!! Da ist es wieder! Das kommt aber nicht von oben … das ist viel näher … „DAS KIND …!“ durchfährt es mich wie ein elektrischer Schlag …

Innerhalb einer Millisekunde bin ich auf den Beinen. „Liebling …“, rufe ich ins Dunkel. „Ist alles ok mit dir???“ Vielleicht ist ihm schrecklich übel. „Ja Mami“, kommt es für einen Fast-Teenanger erstaunlich kleinlaut zurück. „Alles ok hier.“ Ein Stein fällt von meinem Herzen. „Hast du auch das komische Geräusch gehört?“, will ich von ihm wissen. „Ja klar. Das geht schon länger so. Ich dachte, du wärest das“, informiert mich mein reizender Sprössling. Na herzlichen Dank! Für meinen Sohn liegt es offenbar total im Bereich des Möglichen, dass ich Geräusche wie ein abgestochenes Wildschwein von mir gebe. „AHHHHHUUUUZZZZZZZOOOORRRRHHGGG!!!“ Apropos. Da ist es wieder. Und es ist verdammt nah. Und ziemlich gruselig.

Ein Ächzen, Stöhnen, Quieken, Grunzen … das hat nichts Menschliches

„Willst du vielleicht zu mir rüberkommen?“, frage ich das Kind. Sehr kurze Zeit später sitzen wir zusammen auf meinem Bett und lauschen. „Wo kommt das bloß her?“ Das Kind fragt sich wispernd. Und ich frage mich auch. Das Geräusch ist einfach nicht zu identifizieren. Ein Ächzen, Stöhnen, Quieken, Grunzen … das hat nichts Menschliches. Meine Gänsehaut ist ungefähr zwei Zentimeter hoch.

Dann straffe ich mich. Es bringt ja nun nichts, hier auf dem Bett zu sitzen und sich zu gruseln. Ich werde der Sache auf den Grund gehen! Ha! Vielleicht ist das die Nachtschicht vom Hotel nebenan. Teile der Hauswand und des Gartens unseres Altbaus grenzen direkt an die hotelschen Wirtschaftsräume und den Fluchtweg für das Personal. Nur durch eine Mauer getrennt. Auf der Hotelseite ist die Mauer hüfthoch, auf unserer Seite geht es vier Meter nach unten bis auf Gartenniveau. Die Belegschaft raucht manchmal im Rudel draußen eine vor der Küchentür. Und vielleicht machen die sich da gerade einen ganz besonders lustigen Spaß. So muss es ein! Helden-Mama rafft sich auf, schreitet wie eine römische Rachegöttin energisch zum Fenster und reißt es auf. „OOOHHHCCCCHHHHUUUUUAAAHHHIIIIIII!!!“

Das Geräusch ist so laut, dass ich entsetzt zwei Meter zurückspringe. Das kommt nicht vom Hotel. Der/die/das Quelle scheint in dem stockdunklen Garten direkt unter unserem Fenster zu lauern. Oder sitzt ES schon an der Hauswand?! Ist es auf dem Weg nach oben zu uns?!?! Ich werfe das Fenster in Panik zu und zerre das Kind unter einem Oberbettenberg hervor. „Wir holen Papa!“

Der Mann ist ein ganz klein bißchen erstaunt, als wir zu zweit im Wohnzimmer vorstellig werden. Er hört sich die Geschichte von abgestochenen Wildscheinen und irren Mauerkletterern ergeben an, legt den Controller der Playstation weg und folgt uns gemessen ins Schlafzimmer. Ich öffne das Fenster – und wie zum Beweis erklingt sofort das Gruselgeräusch. Dem Mann entgleisen kurz die Gesichtszüge, dann tritt er ans Fenster und lehnt sich hinaus. Ich halte mir vorsorglich die Augen zu, falls der irre Wildschwein-Mauerkletterer jetzt zuschlägt …

„Da unten ist jemand. Direkt unter dem Fenster, stellt er leise fest.

Kurze Zeit später ist sein Kopf wieder im Zimmer – tatsächlich noch am Körper. „Da unten ist jemand. Direkt unter dem Fenster“, stellt er leise fest. „Wahrscheinlich ein Drogist, der da gerade einen ganz schlechten Film fährt.“ Hm. Die Theorie hat was für sich. Unser Garten ist zwar von drei Seiten hoch umbaut und auf der vierten Seite von Nachbargrundstücken und Zäunen umgeben. Und ich wüsste auch nicht, was man sich als Drogenkonsument alles einwerfen müsste, um diese Geräusche von sich zu geben … Aber im Moment fällt mir auch keine bessere Möglichkeit ein.

„Vielleicht haut der ja ab, wenn wir ihn ansprechen“, meint der Mann. Er lehnt sich wieder aus dem Fenster. „Hallo!“ Der Mann spricht sehr laut und sehr streng. „Soll ich die Polizei oder einen Krankenwagen rufen?“ Aus dem Garten unter uns erklingt Gekrächze und ablehnende Geräusche. Moment mal, war das etwa gerade Schwäbisch? Ein schwäbelnder Drogenabhängiger in unserem Garten? Dann stöhnt und wimmerst es wieder zum Gotterbarmen.

„Ich geh da jetzt runter!“ Der Mann bewegt sich Richtung Wohnungstür. „WAS?!!?“ Du kannst doch jetzt nicht einfach so da runtergehen … das ist da stockdunkel! Wenn der dich angreift!“ Ich echauffiere mich. „Ich rufe die Polizei!“ Das Kind hat mein Handy schon in der Hand und schickt sich an zu wählen. Das wird mir jetzt gerade alles ein bißchen viel. Ich ringe dem Kind erst mal mein Handy aus den klebrigen Fingern, inzwischen ist der Mann schon im Treppenhaus. „Pass auf dich auf!!“, rufe ich ihm hinterher. „Ich bin am Telefon – falls was ist, rufe ich doch sofort die Polizei.“ Oder eine Krankenwagen, füge ich im Geiste hinzu. Mit der einen Hand umklammere ich das Festnetztelefon, mit der anderen mein Handy. Ich bin auf alles vorbereitet!

Dann erklingt das Gerumpel der alten Tür zum Garten. Wir halten den Atem an.

Das Kind und ich eilen wieder ans Fenster. Draußen kann man kaum was erkennen. Es ist jetzt ganz still im Garten. Wir hören durch die offene Wohnungstür, wie der Mann die Kellertür aufschließt und die Treppe hinuntersteigt. Dann erklingt das Gerumpel der alten Tür zum Garten. Wir lauschen atemlos. Da erscheint die große, starke, mutige Silhouette des Mannes. Man kann sie gerade so erahnen in dem schwarzen Loch von Garten. Wir halten den Atem an.

Dann spricht der Mann. Er unterhält sich mit jemandem. What? Ich spitze die Ohren. Ich höre Satzfragmente wie vier Meter, Hotel, Garten, Kellertreppe, Krankenwagen, Sickel. Sickel?! Dann raschelt es und plötzlich gibt es doch wieder ein paar irre Gruselgeräusche. Nur viel leiser diese Mal. Ich höre den Mann beruhigend sprechen. Zwei Schatten bewegen sich ganz dicht beieinander sehr langsam durch den Garten. „Ist alles ok?“, rufe ich dem Mann zu. Soll ich einen Krankenwagen rufen? „Nein, nein! Wir kommen jetzt durch den Keller hoch.“ Der Mann scheint ziemlich entspannt.

Es dauert ewig. Das Kind und ich sind inzwischen im Hausflur vor unserer Wohnungstür und spitzen durch das Metallgeländer nach unten. Stufe für Stufe, unterbrochen von langen Pausen, arbeiten der Mann und der Unbekannte sich die Kellertreppe nach oben. Dazu gibt es viel Geöffze und Gestöhne. Da – jetzt kann man sie erkennen! Ich stutze. In den Armen des Mannes hängt ein grauhaariger, älterer Herr, der sich offenbar nur mit Mühe auf den Beinen halten kann. Stark schwäbelnd erklärt er immer wieder, dass er ein ausgemachter Sickel sei. Was macht ein unbekannter siebzigjähriger schwäbischer Rentner nachts in unserem Hamburger Garten und warum gibt er solche Geräusche von sich?

„Kann ich helfen, soll ich doch einen Krankenwagen rufen?“ biete ich dem Mann an. Der lehnt ab. „Ich bringe den Herrn nur schnell zurück ins Hotel.“ Die Situation bleibt geheimnisvoll.

10 Minuten später ist der Mann wieder da. Und dann erzählt er uns die ganze unglaubliche Geschichte.

10 Minuten später ist der Mann wieder da. Und dann erzählt er uns die ganze unglaubliche Geschichte: Der schwäbische Senior ist auf Hamburg-Besuch und wohnt nebenan im Hotel. Mit seiner Gattin und einem befreundeten Paar hat er einen lauschigen Abend im Hotelrestaurant verbracht. Auf der Suche nah der Toilette erwischte er dann wohl eine falsche Tür. Plötzlich fand er sich nämlich in der menschenleeren Küche wieder, trat durch eine weitere Tür ins Freie auf den Personalfluchtweg und sperrte sich dabei selber aus. Die Tür ließ sich von außen nicht mehr öffnen. In der Falle sitzend, fasste er kurzerhand den Plan, über die scheinbar kleine Gartenmauer zu springen, außen um das Hotel herumzulaufen und durch den Vordereingang wieder ins Restaurant zu kommen. Im Stockdunklen konnte er nicht ahnen, dass es hinter der hüfthohe Mauer nicht auf einen Bürgersteig, sondern im freien Fall locker vier Meter nach unten in unseren Garten geht. Er sprang also über die Mauer, fiel endlose Meter nach unten und landete direkt unter unserem Schlafzimmerfenster. Dort lag er dann geschockt, lädiert, laut schnaufend und stöhnend im Efeu unter unserem Fenster.

Ich starre den Mann an. „Der Typ ist einfach im Dunkeln über die Mauer gesprungen?“ Der Mann nickt. „Im Nachhinein fand er das wohl selber ein bißchen dämlich. Auf jeden Fall hat er ungefähr 30 Mal gesagt, dass er ein „Sickel“ sei.“ Der Mann muss schmunzeln. „Der wollte auch partout keinen Krankenwagen. Ich habe ihm das ungefähr 15 Mal angeboten. Aber man kann einen Mensch mit klarem Verstand ja nicht gegen seinen Willen ins Krankenhaus schleifen.“ Hm, ich bin mir da nicht so sicher.

„Die Guten halten´s aus, hat er immer wieder gesagt. Ihm war das ganze unendlich peinlich und er wollte einfach nur zurück ins Restaurant zu seiner Frau.“ Der Mann habe ihn bis an den Tisch ins Restaurant bringen wollen. Aber der so peinlich berührte Schwabe hatte ihn sehr nachdrücklich am Hoteleingang verabschiedet. Der Mann beobachtete dann noch durch die verglaste Fensterfront, dass der Herr auch wirklich am Tisch im Restaurant ankam. Seine Gattin sei entsetzt aufgesprungen, als sie ihren nassen und total verdreckten, humpelnden  Mann erblickt hätte. Da sei er sicher gewesen, dass man sich weiter um ihn kümmern würde, falls notwendig. Ich muss grinsen. „Was er seiner Frau wohl für eine Story erzählt?“

„Ich bringe jetzt das Kind erstmal wieder ins Bett“, sagt der beste Mann von allen. „Und dann gucken wir zur Beruhigung noch eine Folge The Walking Dead. Ach und hier.“ Der Mann streckt mir mein 25 Zentimeter langes Küchenmesser entgegen. „Das hatte ich eingesteckt – nur für alle Fälle.“

Ich hoffe im Stillen, dass die Studenten heute die Halbzwei-Veranstaltung ausnahmsweise mal auslassen … Ein wenig ungestörte Nachtruhe kann zur Abwechslung mal nicht schaden.